27.11.2018

Andreas Hinkel im Interview über den VfB Stuttgart: "Der Abstieg war ja kein Zufall"

Mitten in seiner Praktikumsphase war Andreas Hinkel nach der Entlassung von Tayfun Korkut beim VfB Stuttgart plötzlich ein paar Tage “Interimstrainer”, ehe sich der 36-Jährige wieder seiner Ausbildung zum Fußball-Lehrer widmen konnte. Aber auch unter Markus Weinzierl ist Hinkel Teil des erweiterten Trainerstabs.
 
SPOX-Chefreporter Florian Regelmann traf sich mit Hinkel, um ausführlich über die Situation des VfB zu sprechen. Außerdem gibt Hinkel einen Insider-Einblick in die Zeit der Fußball-Lehrer-Ausbildung und erklärt, warum er sich noch gar nicht sicher ist, ob er einmal Bundesliga-Trainer werden will.
 
SPOX/Goal: Andy, jetzt stehen wir hier mit unseren 2. Klasse-Tickets in der 1. Klasse im überfüllten Zug zurück aus Köln, weil Sie aktuell in Bad Honnef den Fußball-Lehrer machen. Wie anstrengend muss ich mir die Ausbildung vorstellen?
 
Andreas Hinkel: (lacht) Zum Glück muss ich nicht immer stehen, wenn ich zwischen Stuttgart und Köln pendle. Der Lehrgang ist sicher nicht ohne, du wirst von morgens bis abends gefordert, aber mich persönlich erschlägt es jetzt nicht. Ich habe ja vorher schon ganz normal gearbeitet und war dementsprechend gut auf die Belastung vorbereitet. Aber es ist schon intensiv. Für jemanden wie Daniel Bierofka, der auch im Lehrgang ist und gleichzeitig die Löwen in der 3. Liga trainiert, ist es sicher noch mal anspruchsvoller. Da ziehe ich den Hut vor.
 
SPOX/Goal: Sie sprechen den Stoff an, der ja sehr vielschichtig ist. Zum Beispiel gibt es auch ein Rhetorik-Seminar, was haben Sie da gelernt?
 
Hinkel: Wir haben viele Rollenspiele gemacht. Es wird nachgestellt, wie es ist, wenn man seine erste Pressekonferenz bei einem neuen Klub hat. Es werden Situationen simuliert, wenn man von einem Spieler aggressiv angegangen wird und welche Techniken es gibt, um den Konflikt zu lösen. Natürlich werden auch Interviews geübt, wir hatten Besuch von Experten aus dem TV-Bereich, auch Social Media war ein großes Thema. Auch wenn ich als Spieler schon viele Erfahrungen gesammelt habe und es natürlich gestellt ist, war es eine interessante Erfahrung.
 
SPOX/Goal: Ein weiterer Exkurs hat Sie zur U19-EM nach Finnland geführt.
 
Hinkel: Dort hieß das Thema Scouting. Wir hatten die Aufgabe, ein Team von A bis Z unter die Lupe zu nehmen. Wir haben sogar selbst die Kamera gehalten und gefilmt, wir haben die Szenen selbst zusammengeschnitten und eine Analyse vorbereitet. Von einer anderen Gruppe wurden wir dann beurteilt. Eine der besten Sachen am Lehrgang ist das Feedback, das man bekommt. Diese Fremdreflexion kriegst du in deinem Leben in der Form nie mehr. Es ist zwar auch ein gewisser positiver Druck vorhanden, aber vor allem macht es Spaß, die Erkenntnisse aufzubereiten und zu präsentieren.
 
SPOX/Goal: Zuletzt folgte ein Besuch bei der UEFA in Nyon, Anlass war ein Student Exchange Programme. Was war daran besonders interessant?
 
Hinkel: Abgesehen vom Austausch mit angehenden Fußballlehrern aus anderen Nationen und den Praxiserfahrungen, wir haben zum Beispiel die Offensive von Inter im Spiel gegen Barca analysiert, waren vor allem die Gastredner spannend. Roberto Martinez, Thomas Schaaf und Howard Wilkinson, der englische Meistertrainer (von Leeds United 1992, Anm. der Redaktion), haben Vorträge gehalten und sehr interessante Geschichten erzählt. Vor allem Martinez hat mich sehr beeindruckt. Er hat über seine Zeit mit der belgischen Nationalmannschaft, aber auch in der Premier League berichtet. Seine Klarheit, mit der er auch alle Fragen beantwortet hat, war faszinierend. Und du bekommst auch vermittelt, dass es nicht immer nur einen Weg zum Ziel gibt. Eine Episode: Martinez und Schaaf haben beide erklärt, wie sie mit einem Spieler umgegangen sind, der zu spät zum Training gekommen ist. Einmal hat der Spieler als Bestrafung nicht gespielt. Einmal wurde er in die Verantwortung genommen. Nach dem Motto: Du darfst spielen, aber wenn wir verlieren, bist du schuld. Beide Varianten haben funktioniert.
 
SPOX/Goal: Praktikumsphasen sind auch Teil des Lehrgangs. Normalerweise übernimmt der Praktikant aber nicht plötzlich den Trainerposten, so wie es bei Ihnen der Fall war, als sich der VfB Stuttgart von Tayfun Korkut trennte.
 
Hinkel: Das waren ein paar interessante Tage. Im Endeffekt war die Absprache mit Michael Reschke so klar, dass ich sehr genau wusste, dass die Chance extrem gering ist, im Spiel gegen Dortmund auf der Bank zu sitzen. Ich habe mir auch überhaupt keine Gedanken gemacht, was passieren könnte, wenn es doch passiert und wir vielleicht sogar gewinnen. Den Fußball-Lehrer hätte ich so oder so machen müssen, wenn ich langfristig auf dem Niveau als Trainer arbeiten will. Aber trotzdem bin ich die Situation so angegangen und habe alles so geplant, als würde ich das Spiel gegen den BVB machen. Für mich war entscheidend, einen professionellen Job zu erledigen, auch wenn es nur zwei Trainingseinheiten sein sollten.
 
SPOX/Goal: Sie haben sich in den vergangenen Jahren ins Trainergeschäft reingearbeitet, jetzt folgt zum Abschluss der Fußball-Lehrer. Ist also klar, dass Sie zukünftig als Trainer arbeiten wollen?
 
Hinkel: Nein, das ist wahrscheinlich – aber nicht klar.
 
SPOX/Goal: Warum nicht?
 
Hinkel: Ich will mir nach wie vor alles offenhalten. Es ist ein langer Prozess, bis du vom ersten Trainerschein am Ende beim Fußball-Lehrer angelangt bist. Ich wollte es langsam angehen, weil ich es für den gesünderen Weg halte. Mir war aber auch immer klar, dass ich es durchziehe, wenn ich es einmal angefangen habe. Ich habe auch versucht, mich möglichst breit aufzustellen, indem ich von der U12 an eigentlich alle Altersklassen durchgemacht habe. Sollte ich mich doch für die Management-Schiene entscheiden, halte ich es für sinnvoll, alle Trainerscheine als Background zu haben und Vereine von der Pike auf zu kennen. Der Trainerberuf macht mir extrem viel Spaß, egal ob im Jugendbereich oder bei den Profis, aber ich will mich einfach noch nicht darauf festlegen.
 
SPOX/Goal: Sie haben Ihre Erfahrungen im Kinderfußball erwähnt, was haben Sie aus dieser Zeit mitgenommen?
 
Hinkel: Sehr viel. Es waren lehrreiche Jahre. Ich weiß jetzt, welche Ängste und Sorgen es in diesem Bereich gibt, was Eltern bewegt. Bei der U17 des VfB war ich Co-Trainer von Domenico Tedesco, er hat noch einen viel größeren Hintergrund im Kinderfußball als ich und weiß seine Erfahrungen dort auch sehr zu schätzen.
 
SPOX/Goal: Wenn man sich den Weg anschaut, den Tedesco genommen hat. Dient er nicht auch als Inspiration für Sie?
 
Hinkel: Ich habe Domenico damals als Trainertalent bezeichnet, über dieses Stadium ist er inzwischen weit hinaus. (lacht) Ich finde es überragend, welchen Weg er gegangen ist. Es freut mich unglaublich für ihn. Vor allem deshalb, weil er jetzt als Trainer unter anderem auch den Traum leben kann, den er als Spieler nicht leben konnte. Bei mir ist es anders. Ich habe den Traum als Spieler gelebt, ich bin in die Arenen eingelaufen. Wenn ich jetzt eine Trainerkarriere einschlagen sollte, war mein Weg deshalb ein anderer als der von Domenico.
 
SPOX/Goal: Wie sehr spielt es bei Ihren Überlegungen eine Rolle, dass Sie schon immer eine gewisse Distanz zum Fußballgeschäft hatten?
 
Hinkel: Es spielt mit Sicherheit eine Rolle. Ich habe mich schon immer in zwei Welten bewegt. Neben der Fußballwelt habe ich immer auch viel Wert auf mein privates Umfeld gelegt, in dem ich mich ganz normal bewegen kann. Ich war nie ganz in der Blase Fußball drin.
 
SPOX/Goal: Wenn Sie von außen aufs Fußballgeschäft schauen, was sehen Sie?
 
Hinkel: Ich finde, dass schon eine sehr große Eventisierung stattgefunden hat. Ich merke das auch bei Bundesligaspielen im Stadion. Ein Beispiel: Wenn heutzutage ein Spieler ausgewechselt wird, erhält er praktisch standardisiert Standing Ovations, fast schon unabhängig von seiner Leistung. Oder wenn ich mir anschaue, wie viel näher die Fans früher an uns dran waren. Wir sind vor und nach dem Training mitten durch die Fans gelaufen, das war völlig normal. So was wie nicht-öffentliches Training gab es nicht.
 
SPOX/Goal: Wenn Sie eines Tages als Trainer in der Bundesliga arbeiten sollten, wie soll eine Mannschaft, die von Ihnen trainiert wird, spielen? Was wäre Ihnen wichtig?
 
Hinkel: Mir wäre vor allem wichtig, dass viel von Sevilla erkennbar ist. (lacht) Meine Sevilla-Zeit hat mich diesbezüglich am meisten geprägt. Wir hatten damals eine Mannschaft, die unglaublich flexibel war. Wir konnten ein Spiel mit Ballbesitz dominieren, gleichzeitig konnten wir aber auch auf Konter spielen. Unberechenbarkeit und Flexibilität wären für mich die wichtigsten Eigenschaften. Allerdings kommt es auch immer darauf an, welche Mannschaft ich zur Verfügung habe. Ich vergleiche es gerne mit einem Satz Karten. Wenn ich nur zwei Asse habe und eben keine elf, dann muss ich aus diesem Satz Karten das Beste herausholen.
 
SPOX/Goal: Die perfekte Überleitung zur aktuellen Situation beim VfB. Wir könnten uns lange darüber unterhalten, wie viele Asse der VfB aktuell in seinen Reihen hat, aber ich würde gerne tiefer gehen. Der VfB durchläuft in dieser Saison ja nicht zum ersten Mal eine extrem schwierige Phase. Was ist das Problem dieses Vereins?
 
Hinkel: Wenn ich mir die Entwicklung anschaue: Der Abstieg vor zweieinhalb Jahren war ja kein Zufall. Danach hat sich der Verein gut erholt, es wurde eine neue Euphorie entfacht. Unter Hannes Wolf lief es nach dem Aufstieg zwar nicht optimal, aber es war auch nicht so schlecht. Dann kam es zum Trainerwechsel, nachdem Hannes seinen Rücktritt angeboten hatte. Danach ging es in der Rückrunde steil bergauf, obwohl es bei einem Aufsteiger ja normalerweise eher andersherum läuft und es getragen von der Euphorie am Anfang besser läuft. Jetzt steckt der VfB im traditionell schwierigen zweiten Jahr nach dem Aufstieg. Ich kann gar nicht sagen, ob es ein generelles Problem gibt – aber es ist auffällig, dass die Ausschläge, nach oben, aber auch vor allem nach unten, seit einigen Jahren enorm sind.
 
SPOX/Goal: Wofür steht der VfB denn im Jahr 2018? Ist die fehlende Identität nicht das viel größere Problem, als dass aktuell Nicolas Gonzalez noch Zeit braucht, oder Daniel Didavi leider mal wieder mit Verletzungen zu kämpfen hat?
 
Hinkel: Woraus entsteht eine Identität? Eine Philosophie wird in jedem Verein von den handelnden Personen vorgegeben. Wenn es dort aber eine große Fluktuation und keine Konstante gibt, wird es schwierig. Wie viele Trainer und Sportdirektoren hatte der VfB in den vergangenen Jahren? Wie viele Präsidenten gab es seit Erwin Staudt?
 
SPOX/Goal: Wolfgang Dietrich ist seitdem jetzt der dritte.
 
Hinkel: Und er ist mit viel Leidenschaft und Engagement bei der Sache. Die Konstanz, die es immer noch gibt, ist die Qualität der Ausbildung. Darauf legt auch die aktuelle Vereinsführung sehr großen Wert. Ich habe erst vor einigen Wochen eine Studie gelesen, dass kein anderer deutscher Verein den Grundstein für so viele Profikarrieren gelegt hat, der VfB ist dort in Europa in den Top-10. Aber wenn man sich die Namen dann anschaut, egal ob es bekanntere sind wie Joshua Kimmich, Thilo Kehrer oder Timo Werner, oder weniger bekannte wie Milos Degenek oder Sinan Gümüs, keiner spielt beim VfB. Dass da in der Vergangenheit Fehler passiert sind, liegt auf der Hand.
 
SPOX/Goal: Sie waren damals Teil der “Jungen Wilden”, in Nürnberg wurde mit Antonis Aidonis jetzt ein 17-Jähriger eingewechselt, die A-Jugend ist Tabellenführer in der Süd-Staffel. Muss es eine Rückbesinnung geben und wieder mehr Wert auf den eigenen Nachwuchs gelegt werden?
 
Hinkel: Es ist ja nicht so, dass gar keine eigenen Spieler entwickelt werden. Timo Baumgartl hat eine überragende Entwicklung gemacht und ist U21-Nationalspieler. Berkay Özcan tut sich gerade auch verletzungsbedingt etwas schwer, hat aber auch schon gezeigt, was er für ein Potenzial hat. Man darf auch nicht vergessen, dass es ein riesengroßer Schritt ist von der U19 in die erste Mannschaft. Aber keine Frage, der Verein hätte seinem eigenen Nachwuchs in der Vergangenheit hier und da mehr Wertschätzung entgegenbringen können. So wie jetzt auch Markus Weinzierl ab und zu mal einen Spieler in den Kader zu nehmen und zu zeigen, dass eine Durchlässigkeit im System da ist, kann viel bewirken.
 
SPOX/Goal: Sie haben mit einigen Jungs der aktuellen Mannschaft wie Mario Gomez, Christian Gentner und Andreas Beck noch selbst zusammengespielt. Wie schätzen Sie die Qualität des Kaders ein? Klar ist, dass die ergebnistechnisch überragende Rückrunde, in der einige Spiele glücklich gewonnen wurden, über das wahre Leistungsvermögen hinweggetäuscht hat.
 
Hinkel: In der Rückrunde hat sich sicher eine besondere Dynamik entwickelt. Die Mannschaft hatte eine gewisse Haltung auf dem Platz. Jeder wusste, hinten brennt nicht viel an und vorne können wir unser Tor schon machen. Der VfB hatte natürlich auch einige Male das nötige Spielglück, ich denke spontan an das verrückte Spiel in Köln. Es spielt sich so viel im Kopf ab. Wenn ich sehe, wie viel mehr Selbstvertrauen die Truppe in Nürnberg nach dem 1:0 hatte, wie die Körpersprache plötzlich eine ganz andere war und Gas gegeben wurde – das war eine echte Befreiung. Jetzt konnte Markus Weinzierl zwei Wochen lang in Ruhe mit dem Team arbeiten. Die personelle Situation entspannt sich auch dadurch, dass Marc-Oliver Kempf und hoffentlich bald auch Daniel Didavi wieder in den Rhythmus finden und Anastasios Donis zurückkehrt. Und bei Mario Gomez wird auch der Knoten platzen. Ich blicke eigentlich ganz zuversichtlich auf die nächsten Wochen.
 
SPOX/Goal: Generell wird nach wie vor als perspektivische Zielrichtung das erste Drittel der Liga ausgegeben. Einerseits ein verständlicher Anspruch, aber andererseits auch aktuell einfach unrealistisch?
 
Hinkel: Die Vergangenheit hat gezeigt, wie schnell es im Fußball gehen kann. Wo stand Borussia Dortmund 2008? Und 2011/2012 wird der BVB plötzlich Meister. Damit will ich nicht sagen, dass der VfB diesen Weg gehen kann, aber es zeigt einfach, wie schnell es auch wieder nach oben geht. Ja, die Konkurrenz ist gewaltig, aber das Potenzial des VfB und der Stadt Stuttgart ist auch gewaltig. Da ist Power vorhanden. Der VfB hat in der Vergangenheit ganz sicher nicht alles richtig gemacht. Ein kleinerer Verein wie Freiburg hätte sich davon wahrscheinlich auch nicht mehr erholt – der VfB schon. Das macht mir Hoffnung. (lacht)
 
SPOX/Goal: Haben Sie also keine Sorge, dass der VfB in dieser Saison erneut absteigen und sich dann vielleicht nicht ein zweites Mal so schnell erholen könnte?
 
Hinkel: Der Verein darf die Situation auf keinen Fall unterschätzen und muss respektvoll mit ihr umgehen. Ich bin kein Freund davon zu sagen, dass ja noch so viele Punkte zu vergeben sind und die Qualität ja eigentlich viel höher ist. Das habe ich 2001 am eigenen Leib erfahren, als Krassimir Balakow am vorletzten Spieltag in der 90. Minute das 1:0 gegen Schalke, die im Meisterrennen waren, geschossen hat, um uns zu retten.
< zurück