20.09.2011

Das Musterbeispiel Andreas Hinkel

Stuttgarter Zeitung

Stuttgart – Wenn Andreas Hinkel (29) über das Clubgelände auf dem Wasen marschiert, fühlt er sich gleich zehn Jahre jünger. Die vielen Talente, denen er da begegnet und die der VfB zum Teil schon vor ein paar Monaten mit einem Lizenzspielervertrag ausgestattet hat, erinnern ihn an seine Anfänge in der Fußball-Bundesliga. Im Gegensatz zu der heutigen Generation, die in den Augen des Cheftrainers Bruno Labbadia noch nicht reif für einen Auftritt bei den Profis ist, hat Hinkel damals aber sehr schnell Fuß gefasst. Sein Fall ist ein Musterbeispiel für eine gelungene Nachwuchsförderung und zeigt, wie eine Karriere entwickelt werden kann – vom Spieler und vom Club.

Hinkel war erst zehn Jahre alt, als er den Dress des TSV Leutenbach mit jenem des VfB tauschte. Ein Freund seines Vaters kannte den Stuttgarter Jugendleiter Frieder Schrof – und über diese Schiene bekam er 1992 die Einladung zu einem Probetraining. “Das war Zufall”, sagt Hinkel. Kein Zufall war jedoch, was daraus geworden ist.

Zuhören und umsetzen ist angesagt

Er jonglierte den Ball so gekonnt, dass Jürgen Müller und Jürgen Schorrstädt angetan waren. Sie waren damals für die D-Jugend des VfB verantwortlich – der eine als Trainer, der andere als Betreuer. Am Tag nach dem Probetraining meldeten sie sich bei Hinkel und sagten, dass sie ihn gerne beim VfB sehen würden. Das war der Startschuss.

Hinkel trat an und merkte, “dass hier alles anders ist” – schon rein optisch. Denn im Gegensatz zu ihm hatten die Kameraden bereits alle richtige Trikots an und eine komplette Ausrüstung bis hin zu Schienbeinschützern in der Tasche. Aber auch inhaltlich gab es Unterschiede. “Die Vorgaben waren klar, es lief ab wie in der Schule”, erklärt Hinkel. Zuhören und umsetzen war angesagt – speziell bei den regelmäßigen Taktikbesprechungen, die bereits mit den Jüngsten durchgeführt wurden. Da ahnte er schon, dass es nicht leicht sein würde, nach oben zu kommen. “Der Auftakt war schwierig für mich”, sagt er.

Zunächst brachte er es nicht auf viele Einsätze. Sein Hauptproblem bestand darin, dass der Verein die größten Talente aus dem ganzen Land verpflichtete – aber vorwiegend Stürmer. Auch Andreas Hinkel war Torjäger in Leutenbach und hatte jetzt beim VfB Stuttgart starke Konkurrenz. So musste er sich neu orientieren, was in der Rückrunde geklappt hat. Da schulte ihn der Trainer Müller zum rechten Verteidiger um – eine Position, auf der er später auch bei den Profis und in der Nationalmannschaft spielen sollte.

Aber zuerst folgte die C-Jugend, wo die Trainingsbelastung auf bis zu vier Einheiten pro Woche stieg. Die zunehmende Professionalisierung drückte sich auch darin aus, dass er nun öfter Kontakt mit den Jugendkoordinatoren Thomas Albeck und Wolfgang Geiger hatte, die für die sportliche Ausrichtung insgesamt verantwortlich waren – und damit vor allem dafür, dass die Idee mit einem einheitlichen Spielsystem für alle Jugendmannschaften verwirklicht wird. “Die Leitlinie war, dass wir den Libero abgeschafft und die Abwehrviererkette eingeführt haben”, sagt Hinkel. Für die damaligen Verhältnisse in Deutschland war das ein fast revolutionärer Ansatz.

Hinkel hätte nichts dagegen, wieder zu spielen

Er verinnerlichte das Konzept so gut, dass er in die U-15-Nationalelf berufen wurde. Später durchlief er alle Auswahlmannschaften des DFB bis zum A-Team. Er weiß, dass er das auch dem VfB zu verdanken hat. Für Hinkel legte der Club damals die Basis für modernere Strukturen – mit der Gründung des Jugendhauses und der Einführung eines Talenttrainings. Zweimal pro Woche versammelten sich die Jugendnationalspieler seines Jahrgangs direkt nach der Schule zu einer individuellen Übungseinheit. So trainierte Hinkel von der B-Jugend an praktisch täglich. “Der VfB war da sehr fortschrittlich. Bessere Bedingungen als hier hat es zu der Zeit wohl nicht gegeben”, sagt er – und meint damit auch, dass der Verein in Person seines Jugendleiters Frieder Schrof mitgeholfen hat, einen Ausbildungsplatz für ihn zu finden. Hinkel absolvierte eine kaufmännische Lehre, die er erst abschloss, als er 2001 schon ein fester Bestandteil der Profimannschaft war.

Die Tatsache, dass er die oft schwierigen Übergänge von der Jugend über die Amateure in die Bundesliga locker gemeistert hat, führt er auf verschiedene Umstände zurück – auf die gute Ausbildung, aber auch darauf, “dass der VfB Stuttgart damals nur wenig Geld hatte und sich keine teuren Einkäufe leisten konnte”. Aus der finanziellen Not musste der Club deshalb eine Tugend machen. Das führte dazu, dass Andreas Hinkel schon als A-Jugendlicher zehn Bundesligaspiele bestritt.

So ist die Rechnung bei ihm aufgegangen. “Aber deshalb kann man nicht behaupten, dass es nur diesen einen Weg gibt”, sagt Hinkel. Momentan ist er nach einem Kreuzbandriss ohne Club und hält sich beim VfB fit. Nach den Stationen beim FC Sevilla und bei Celtic Glasgow hätte er nichts dagegen, wieder hier zu spielen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

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